In der Rechtsache Toscca gegen Infraestruturas de Portugal hatte der EuGH sich mit der Frage der Begründungs- und Informationspflichten öffentlicher Auftraggeber bei einem Ausschluss von Bietern im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens auseinanderzusetzen. Im Konkreten musste der EuGH die Reichweite von Ausschlussgründen wegen fehlender Zuverlässigkeit und die damit im Zusammenhang stehenden Begründungspflichten von Auftraggebern nach dem geltenden Vergaberecht beurteilen.

Das Ausgangsverfahren betraf die Vergabe eines Auftrags über die Lieferung von Bolzen und Eisenbahnschwellen. Dabei beantragte der Verfahrensteilnehmer Toscca beim Verwaltungs- und Finanzgericht Viseu die Aufhebung der Zuschlagsentscheidung zugunsten von Futrifer. Dabei brachte Toscca vor, dass Furtrifer als präsumtiver Zuschlagsempfänger wegen eines Verstoßes gegen Wettbewerbsrecht im Rahmen verschiedener Vergabeverfahren in der Vergangenheit mit einer Geldbuße belegt wurde. Nach den entsprechenden nationalen Vorschriften hätte Furtrifer sich überhaupt nicht an öffentlichen Vergabeverfahren beteiligen dürfen. Das Gericht zweiter Instanz gab dem Antrag von Toscca statt und verpflichtet den Auftraggeber, den Zuschlag an Toscca zu erteilen. Das daraufhin von Futrifer angerufene Oberste Verwaltungsgericht hat die Rechtsache wegen unzureichender Begründung zur neuerlichen Entscheidung an das Gericht zweiter Instanz zurückverwiesen. Da das Gericht zweiter Instanz seine ursprüngliche Entscheidung nochmals bestätigt hatte, haben Auftraggeber und Furtrifer ein nochmaliges Rechtsmittel beim Obersten Verwaltungsgericht eingebracht. Das Oberste Verwaltungsgericht hat dann das vorliegende Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH eingeleitet.

Dabei hat der EuGH zunächst die Frage geklärt, ob Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Richtlinienvorschriften zu fakultativen Ausschlussgründen wegen fehlender Zuverlässigkeit in nationales Recht umzusetzen. Dabei hat der Gerichtshof eine Umsetzungspflicht für die Mitgliedstaaten bestätigt; mit dieser Klarstellung ist der EuGH von seiner bisherigen Rechtsprechung abgewichen.

Darüber hinaus hat sich der EuGH mit dem Ermessensspielraum der Auftraggeber bei Anwendung fakultativer Ausschlussgründe wegen fehlender Zuverlässigkeit beschäftigt. Dabei hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Auftraggeber bei Beurteilung des jeweiligen Einzelfalls berechtigt ist, sich auf das Ergebnis der nationalen Wettbewerbsbehörde im Rahmen von Wettbewerbsverstößen zu stützen. In diesem Zusammenhang kann der Entscheidung einer solchen Behörde, mit der ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht festgestellt und deshalb eine Geldbuße gegen einen Bieter verhängt wurde, eine besondere Bedeutung zukommen. Dies gilt im Besonderen dann, wenn mit dieser Sanktion ein vorübergehendes Verbot der Teilnahme an Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge einhergeht. Eine solche Entscheidung kann den öffentlichen Auftraggeber dazu veranlassen, den betroffenen Wirtschaftsteilnehmer vom Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags auszuschließen. Die gesetzliche Bindung des öffentlichen Auftraggebers an die Entscheidung der Wettbewerbsbehörde wäre aber mit den unionsrechtlichen Grundsätzen nicht vereinbar; die endgültige Entscheidung über den Ausschluss wegen fehlender Zuverlässigkeit obliegt daher immer dem öffentlichen Auftraggeber selbst, der insofern auch über ein entsprechendes Ermessen verfügt. Umgekehrt jedoch kann das Fehlen einer solchen Entscheidung ihn weder daran hindern noch davon entbinden, eine entsprechende Beurteilung vorzunehmen. Diese Beurteilung hat mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände zu erfolgen, um zu prüfen, ob die Anwendung des Ausschlussgrundes wegen fehlender Zuverlässigkeit gerechtfertigt ist.

Letztlich hat der EuGH die Frage behandelt, ob Auftraggeber eine Begründungspflicht für ihre Entscheidungen, insbesondere bei Ausschluss eines Bieters trifft. Eine solche Begründungspflicht wird vom EuGH mit Verweis auf den allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz der guten Verwaltung bestätigt. Diese Begründungspflicht betrifft insbesondere Entscheidungen, mit denen der öffentliche Auftraggeber einen Bieter in Anwendung namentlich eines fakultativen Ausschlussgrundes wegen fehlender Zuverlässigkeit ausschließt.Außerdem wird darauf hinzuweisen, dass der öffentliche Auftraggeber seine Entscheidung auch dann begründen muss, wenn er feststellt, dass für einen Bieter ein Ausschlussgrund wegen fehlender Zuverlässigkeit zutrifft, aber gleichwohl beschließt, ihn nicht auszuschließen, weil der Ausschluss beispielsweise eine unverhältnismäßige Maßnahme wäre. Eine solche Entscheidung, von einem Ausschluss abzusehen, obwohl ein fakultativer Ausschlussgrund anwendbar scheint, berührt nämlich die Rechtsstellung aller übrigen am Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags teilnehmenden Wirtschaftsteilnehmern, die daher ihre Rechte geltend machen können müssen und auf der Grundlage der in dieser Entscheidung enthaltenen Gründe gegebenenfalls entscheiden können müssen, mit einer Klage gegen die Entscheidung vorzugehen. Die Begründung für die Entscheidung, von einem Ausschluss abzusehen, kann insoweit in die abschließende Entscheidung über die Vergabe des Auftrags an den ausgewählten Bieter aufgenommen werden.

Anmerkungen der AutorInnen:

Der EuGH hat einmal mehr wichtige Fragen im Vergaberecht bei Anwendung fakultativer Ausschlussgründe wegen fehlender Zuverlässigkeit von Bietern beantwortet. Wesentlich dabei ist, dass öffentliche Auftraggeber bei diesen Ausschlussgründen einen entsprechenden Ermessensspielraum haben, der nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auszulegen ist. In jedem Fall treffen öffentliche Auftraggeber beim Ausschluss wegen fehlender Zuverlässigkeit eine Begründungspflicht; eine solche Begründung ist auch dann erforderlich, wenn der Auftraggeber aufgrund seines Ermessensspielraums auf einen Ausschluss im jeweiligen Anlassfall verzichten sollte, obwohl auch ein Ausschluss in Betracht kommt. Darüber hinaus hat der EuGH darauf hingewiesen, dass gewisse Wettbewerbsverstöße, die von zuständigen Wettbewerbsbehörden festgestellt wurden, den öffentlichen Auftraggeber „veranlassen“ können, den betreffenden Bieter vom Vergabeverfahren auszuschließen. Letztlich ist zu berücksichtigen, dass das vorliegende Urteil insbesondere auch für die zahlreichen Verurteilungen im Rahmen des österreichischen Baukartells entsprechende Implikationen hat.

EuGH 21.12.2023, RS C-66/22