Am 7.9.2023 hat der Europäische Gerichtshof in einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen ein Urteil zur Auslegung des Vergaberechts gemäß Richtlinie 2014/24 erlassen. Die Kommission warf Polen vor, bei Umsetzung dieser Ausnahmetatbestände für Aufträge bei Herstellung bestimmter Dokumente, Vordrucke und Zeichen aufgenommen zu haben, die in der Richtlinie nicht vorgesehen sind. Aufgrund dieses Ausnahmetatbestandes hat Polen ohne die Durchführung eines Vergabeverfahrens ein staatliches Unternehmen direkt mit der Herstellung amtlicher Dokumente (Personalausweise, Reisepässe, Führerscheine, Dienstausweise von Polizisten, Militärangehörigen und Staatsbediensteten sowie weitere Ausweise, Dokumente und Zeichen der Legitimierung öffentlicher Dokumente) betraut. Begründet wurde dieser Ausnahmetatbestand mit dem Schutz wesentlicher Sicherheitsinteressen von Polen. Die Europäische Kommission hat jedoch die Ansicht vertreten, dass dieser Ausnahmetatbestand im nationalen Recht unionsrechtswidrig ist. Dabei hat die Kommission ins Treffen geführt, man müsse die in diesem Zusammenhang zu beachtenden Richtlinienbestimmungen eng auslegen; ein schlichtes Sicherheitsinteresse würde nicht ausreichen, um derartig weite Ausnahmetatbestände zu ermöglichen.

Im Verfahren berief sich Polen unter anderem auf Art 15 Abs 2 und 3 der Richtlinie in Verbindung mit Art 346 Abs 1 lit a AEUV. Nach dieser Richtlinienbestimmung gilt die Richtlinie 2014/24 nicht, soweit der Schutz wesentlicher Sicherheitsinteressen eines Mitgliedstaats nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen, zum Beispiel durch Anforderungen, die auf den Schutz der Vertraulichkeit der Informationen abzielen, die der öffentliche Auftraggeber im Rahmen eines Vergabeverfahrens im Sinne dieser Richtlinie zur Verfügung stellt, gewährleistet werden kann. Im vorliegenden Verfahren hat Polen zwar den Schutz wesentlicher Sicherheitsinteressen und die damit einhergehenden Garantien behauptet; zu prüfen war aber, ob das von Polen verfolgte Sicherheitsziel nicht auch im Rahmen der Richtlinie 2014/24 hätte erreicht werden können, etwa durch technische Spezifikationen in den Ausschreibungsunterlagen und die Forderung bestimmter Fähigkeitsnachweise sowie nach qualifiziertem Personal und einer Berufshaftpflichtversicherung.

Der Gerichtshof verwies mit Bezug auf das seinerzeitige Urteil vom 20.3.2018, C-187/16, Kommission/Österreich (Staatsdruckerei), darauf, dass die Gewährleistung der Sicherheit der betreffenden Dokumente auch mittels einer Vertraulichkeitsverpflichtung den öffentlichen Auftraggeber nicht daran gehindert hätte, eine Ausschreibung durchzuführen. Darüber hinaus kann die Vertraulichkeit von Daten auch mit einer Geheimhaltungspflicht sichergestellt werden, ohne dabei gegen die Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge zu verstoßen. Der Auftraggeber ist nämlich befugt, besonders hohe Anforderungen an die Eignung und Vertrauenswürdigkeit des Auftragnehmers zu stellen. Von dieser Argumentation sind bestimmte persönliche Dokumente und Identitätsnachweise von Polizei, Militärangehörigen und Staatsbedienstete ausgenommen, weil bei diesen Dokumenten tatsächlich davon auszugehen ist, dass diese Dokumente einen unmittelbaren und engen Zusammenhang mit dem Ziel des Schutzes der nationalen Sicherheit aufweisen, sodass sie zusätzliche Anforderungen an die Vertraulichkeit rechtfertigen. Eine Veröffentlichung dieser Informationen könnte irreparable Folgen für die nationale Sicherheit sowie für die Bediensteten selbst haben. Aus diesen Gründen hat Polen gegen seine Verpflichtungen aus Art 1 Abs 1 und 3 sowie Art 15 Abs 2 und 3 der Richtlinie 2014/24 in Verbindung mit Art 346 Abs 1 lit a AEUV verstoßen, indem es im polnischen Recht einen weiten Ausnahmetatbestand aufgenommen hat, der in der Richtline in dieser Form nicht vorgesehen ist.

Anmerkungen der AutorInnen:

Das vorliegende Urteil zeigt einmal mehr, dass nach ständiger Rechtsprechung aus zwingenden unionsrechtlichen Gründen die Ausnahmetatbestände, die öffentliche Auftraggeberin von den Ausschreibungspflichten befreien, im Interesse eines vergaberechtlichen Wettbewerbs immer eng auszulegen sind. Darüber hinaus trifft den jeweiligen öffentlichen Auftraggeber die volle Beweislast dafür, dass die Tatbestandsmerkmale eines Ausnahmetatbestandes erfüllt sind, wenn auf eine öffentliche Ausschreibung verzichtet werden soll. Diese Auslegungsmaxime des EuGH gilt insbesondere auch dann, wenn Sicherheitsinteressen behauptet werden. Nur die schlichte Behauptung von Sicherheitsinteressen berechtigen nicht, den Ausnahmetatbestand in Anspruch zu nehmen. Vielmehr hat der Auftraggeber nachzuweisen, dass so erhebliche Sicherheitsinteressen vorliegen, die durch andere Maßnahmen in einem regulären Vergabeverfahren nicht in ausreichendem Ausmaß sichergestellt werden können.

EuGH 7.9.2023 C-601/21