Im vorliegenden Fall hatte der EuGH zu beurteilen, ob die Einflussnahme auf die Gestaltung eines noch nicht errichteten und später angemieteten Bürogebäudes durch einen öffentlichen Auftraggeber ausschreibungspflichtig gewesen wäre. Da die Miete eines Objekts von den Ausschreibungspflichten des Vergaberechts ausgenommen ist (vgl § 9 Abs 1 Z 10 BVergG), war im Konkreten die Frage zu klären, ob durch die Einflussnahme des öffentlichen Auftraggebers auf das noch zu errichtende Mietobjekt ein ausschreibungspflichtiger öffentlicher Bauauftrag anstelle eines Mietvertrages vorliegt (vgl § 5 Z 3 BVergG).

Beim zugrundeliegenden Sachverhalt wurde von Wiener Wohnen eine noch nicht errichtete Immobilie (Gate 2, Guglgasse 2-4) für die Nutzung als Bürofläche gemietet. Die Europäische Kommission vertrat die Ansicht, dass Wiener Wohnen das noch nicht errichtete Bürogebäude durch wesentliche Einflussnahme nach dessen eigenen Vorstellungen gestaltet hätte und dieses dann anschließend errichtet und angemietet wurde. Deshalb wäre nach Ansicht der Kommission ein ausschreibungspflichtiges Bauvorhaben vorgelegen und kein vom Vergaberecht ausgenommener Mietvertrag.

Der EuGH hat in seinem Urteil zunächst darauf hingewiesen, dass die Miete von unbeweglichem Vermögen oder Rechten daran von den Ausschreibungspflichten des Vergaberechts ausgenommen ist. Die Planung und Ausführung von Bauvorhaben oder deren Erbringung durch Dritte ist hingegen ausschreibungspflichtig; zentrales Kriterium bei Beurteilung dieser vergaberechtlichen Ausschreibungspflicht ist, ob der öffentliche Auftraggeber die Merkmale der Bauleistung festlegt oder zumindest entscheidenden Einfluss auf die Planung der Bauleistung hat. Dieses Kriterium ist insbesondere dann erfüllt, wenn Einfluss auf die architektonische Struktur des Gebäudes wie etwa seine Größe, seine Außenwände und seine tragenden Wände ausgeübt wird. Anforderungen, die sich nur auf die Gebäudeeinteilung beziehen, können dann als entscheidender Einfluss angesehen werden, wenn die Anforderungen sich aufgrund ihrer Eigenart oder ihres Umfangs abheben.

Bei der Prüfung, ob diese Kriterien erfüllt sind und daher ein entscheidender Einfluss vorliegt, hat der EuGH einige Vertragsbestimmungen im Mietvertrag von Wiener Wohnen geprüft: Demnach stellt die bloße Ausübung einer (Miet-)Option durch den Mieter für die Anmietung weiterer Etagen und Büroflächen keinen Einfluss auf die architektonische Struktur oder die Baugröße dar, auch wenn diese erst bei Ausübung der Option zusätzlich gebaut werden. Voraussetzung für ein derartiges Vorgehen ist allerdings, dass die Möglichkeit eines Ausbaus bereits im Bauplan vor Abschluss des Mietvertrages vorgesehen war und es dem Vermieter auch bei Nicht-Ausübung der Option des Mieters freisteht, weitere Etagen errichten zu lassen. Die Ausübung einer solchen Option begründet dem EuGH nach keinen ausreichenden Nachweis für einen entscheidenden Einfluss. Auch der Abschluss des Mietvertrages vor Erteilung der Baugenehmigung entspricht der Marktpraxis und ist daher marktüblich. Eine langfristige Vertragslaufzeit – wie im vorliegenden Fall von mindestens 25 Jahren – ist bei derartigen Mietobjekten auch nicht unüblich. Ebenso stellt eine Kontrolle bei der Ausführung des Bauvorhabens durch den Mieter oder durch einen von diesem Beauftragten keinen entscheidenden Einfluss dar, weil die Kontrolle eine wirksame Möglichkeit ist, um vereinbarte Fristen für die Übergabe des Gebäudes sicherzustellen. Gewünschte Spezifikationen des Mieters, die für Büroimmobilien in der vorliegenden Größe praxisüblich sind, begründen auch keine entscheidende Einflussnahme. Dies gilt ausdrücklich für Rastersysteme und Hohlraumböden, die für den Mieter eine flexible Innenaufteilung gewährleisten sollen. Darüber hinaus gelten Spezifikationen, die der Einhaltung technischer Normen oder eines marktüblichen Standes der Technik dienen, als praxisübliche Anforderungen, die den Mietvertrag nicht zu einem Bauauftrag im Sinne des Vergaberechts machen. Insbesondere bei der Formulierung von Spezifikationen, die der Verringerung des ökologischen Fußabdruckes und der Verbesserung der Energieeffizienz dienen, müsse man sich – speziell in Hinblick auf die jahrzehntelange Vertragslaufzeit – nicht auf derzeit geltende Standards beschränken und kann auch über diese hinausgehen, ohne dadurch eine vergaberechtliche Ausschreibungspflicht zu begründen.

Anmerkungen der AutorInnen:

Der EuGH hat mit dem vorliegenden Urteil die Grenzen deutlich erweitert, um bei vergleichbaren Konstruktionen eine Ausschreibungspflicht im Sinne des Vergaberechts zu vermeiden. Dadurch wird der Spielraum für öffentliche Auftraggeber gegenüber der bisherigen Rechtsprechung erheblich erweitert. Demnach muss der für eine Ausschreibungspflicht relevante entscheidende Einfluss im Wesentlichen nach zwei Aspekten beurteilt werden: Einerseits ist dieses Kriterium erfüllt, wenn der Mieter auf die architektonische Struktur – wie beispielsweise die Gestaltung tragender Elemente sowie der Außenwände oder Größe des Objekts – Einfluss nimmt. Andererseits kann ein entscheidender Einfluss auch dann vorliegen, wenn Anforderungen an das Mietobjekt gestellt werden, die sich aufgrund ihrer Eigenart und ihres Umfangs abheben und somit über das hinausgehen, was ein privater Mieter üblicherweise bei einem vergleichbaren Objekt verlangen würde.

EuGH 22.4.2021, RS C-537/19