Der EuGH musste sich bereits mehrmals (zuletzt unter anderem in seinem Urteil vom 16.4.2015, Rs C-278/14) mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit die Grundsätze des Europarechts, insbesondere das Diskriminierungsverbot, der Gleichbehandlungsgrundsatz und das Transparenzgebot, auch im vergaberechtlichen Unterschwellenbereich zur Anwendung kommen. Voraussetzung für eine Anwendung dieser Grundsätze ist das Bestehen eines grenzüberschreitenden Interesses. In einem nun vorliegenden Urteil setzte sich der EuGH erneut mit dieser Frage auseinander:
Die Gemeinde Fossano (Piemont, Italien) schrieb die Vergabe von Bauleistungen zur Erweiterung und Verbesserung der Energieeffizienz eines Kindergartens mit einem geschätzten Auftragswert von EUR 1,15 Mio. in einem offenen Verfahren im Unterschwellenbereich aus. In den Ausschreibungsunterlagen war im Einklang mit den italienischen Gesetzen die Möglichkeit vorgesehen, im Zuge der Billigstbieterermittlung ungewöhnlich niedrige Angebote automatisch und ohne vertiefte Prüfung vom Vergabeverfahren auszuschließen. Das im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens befasste nationale Gericht wandte sich mit der Frage an den EuGH, ob eine solche Regelung im Unterschwellenbereich gegen europarechtliche Grundsätze verstößt.
Der EuGH führte hierzu einleitend aus, dass – entsprechend der ständigen Rechtsprechung – bei der Vergabe von Aufträgen im Unterschwellenbereich und vorhandenem grenzüberschreitenden Interesse die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts anzuwenden sind. Für das Bestehen eines solchen Interesses kann bestimmten objektiven Kriterien (beispielsweise dem Auftragsvolumen in Verbindung mit dem Leistungsort, technischen Auftragsmerkmalen oder dem Einlegen von Beschwerden durch Wirtschaftsteilnehmer aus anderen Mitgliedstaaten) Indizwirkung zukommen. Im anzuwendenden Verfahren könnte die Tatsache, dass die Gemeinde Fossano als Ort der Leistungserbringung nur 200km von der französischen Grenze entfernt liegt, am Vergabeverfahren jedoch zahlreiche Bieter aus Süditalien mit einer Entfernung von bis zu 800km teilnehmen, eine Grundlage für die Annahme eines grenzüberschreitenden Interesses sein.
In diesem Zusammenhang führt der EuGH aber aus, dass ein solches Interesse nicht hypothetisch aus bestimmten Gegebenheiten abgeleitet werden kann, sondern „sich positiv aus einer konkreten Beurteilung der Umstände des fraglichen Auftrages ergeben muss“. Im vorliegenden Fall liegen dazu nach Ansicht des Gerichts keine ausreichenden Angaben vor, sodass die Bejahung eines grenzüberschreitenden Interesses allein aufgrund der Angebotsabgabe von weit entfernt ansässigen Bietern nicht gerechtfertigt und in diesem Einzelfall eindeutig unzureichend ist.
Im Ergebnis ist daher festzuhalten, dass das Vorliegen bestimmter Gegebenheiten mit Indizwirkung dann irrelevant ist, wenn sich kein weitergehendes konkretes grenzüberschreiendes Interesse daraus ergibt; die bloße Tatsache, dass sich ein derartiges Interesse nicht ausschließen lässt, ist dafür nicht ausreichend. Interessant ist insbesondere auch, dass der EuGH – zumindest bei geringeren Auftragswerten – die mit der Leistungserbringung durch ausländische Unternehmer verbundenen Kosten zur Erfüllung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften im Mitgliedsstaat der Leistungserbringung sowie die Notwendigkeit der sprachlichen Anpassung als Indizien für das Nicht-Vorliegen eines grenzüberschreitenden Interesses wertet.