Ausschreibungsfreie Inhouse-Vergabe müssen mehrere Voraussetzungen erfüllen. Bei einer vertikalen Inhouse-Vergabe muss der Auftraggeber unter anderem über den Auftragnehmer eine ähnliche Kontrolle ausüben, wie über seine eigenen Dienststellen. Das bedeutet meistens, dass der Auftraggeber allein oder gemeinsam mit anderen öffentlichen Auftraggebern alle Geschäftsanteile am Auftragnehmer halten muss. Nach der bisherigen Rechtsprechung ist das Vorliegen der Voraussetzungen einer Inhouse-Vergabe „in der Regel zum Zeitpunkt der Vergabe des betreffenden öffentlichen Auftrags zu prüfen“, wobei nationale Regelungen zu berücksichtigen sind, die eine baldige Änderung der Erfüllung der Voraussetzungen beeinträchtigen können (zB nationale Vorschrift, die die baldige Öffnung für private Kapitalbeteiligung vorschreibt). Im Übrigen erforderten nach dieser Rechtsprechung nur „ausnahmsweise … besondere Umstände“ die Berücksichtigung von Ereignissen, die erst nach der Vergabe eintreten, wie beispielsweise der Umstand, dass Gesellschaftsanteile „kurz nach Vergabe“ zu Umgehungszwecken an private Unternehmen übertragen werden (EuGH vom 10.9.2009, C-573/07) oder eine Übertragung von Gesellschaftsanteilen an private Unternehmen sogar schon vor der Vergabe beabsichtig ist (EuGH 6.4.2006, C-410/04). Dementsprechend war nach der bisherigen Rechtsprechung vertretbar, dass ein erst nachträglicher Wegfall einer Inhouse-Voraussetzung, wie insbesondere der nachträgliche Wegfall der Beteiligung des Auftraggebers am Auftragnehmer durch Anteilsverkauf, grundsätzlich (sofern nicht ein Ausnahmefall, wie etwa Umgehungsabsicht, vorliegt) unschädlich ist.
Mit dem nun vorliegenden Urteil des EuGH vom 12.5.2022 (EuGH 12.5.2022, C-719/20) stellt dieser seine bisherige Rechtsprechung auf den Kopf. Im Ergebnis müssen demnach die Voraussetzungen einer Inhouse-Vergabe nicht nur bei der Auftragsvergabe, sondern während der gesamten Vertragslaufzeit erfüllt werden, andernfalls bereits laufende Inhouse-Verträge neu auszuschreiben sind.
Dem aktuellen Urteil des EuGH lag folgender Sachverhalt zu Grunde:
- Die Gemeinde Lerici beauftragte im Jahr 2005 die Aktiengesellschaft ACAM ohne Ausschreibung im Wege der Inhouse-Vergabe bis zum Jahr 2028 mit der kommunalen Abfallbewirtschaftung. ACAM übertrug die tatsächliche Ausführung dieser Leistungen an deren damalige 100%-ige Tochtergesellschaft ACAM Ambiente. Zum damaligen Zeitpunkt wurden alle Anteile der ACAM ausschließlich von der Gemeinde Lerici und einigen weiteren Gemeinden gehalten.
- Auf Grund einer mit Gläubigern im Jahr 2013 getroffenen Vereinbarung über eine Umstrukturierung führte ACAM eine öffentliche Ausschreibung mit dem Ziel durch, die Anteile der Gemeinden an ACAM an ein anderes Unternehmen zu übertragen. Diese Ausschreibung führte zur Auswahl des börsennotierten Unternehmens IREN, welches alle Anteile der Gemeinden an ACAM übernahm, darunter auch die Anteile der Gemeinde Lerici, welche ihre Anteile im April 2018 an ACAM übertrug. Die Anteile an der bisherigen Tochtergesellschaft von ACAM, nämlich ACAM Ambiente wurden ebenso an IREN übertragen.
- Die Zuständigkeit für die Bewirtschaftung von Siedlungsabfällen ging nach der ursprünglichen Auftragsvergabe von der Gemeinde Lerici auf eine Provinz über, welcher auch die Gemeinde Lerici angehörte. Diese Provinz bestellte im August 2018 abermals ohne Ausschreibung die ACAM Ambiente (nunmehr Tochtergesellschaft von IREN) als Betreiber der für die Gemeinde Lerici zu erbringenden Dienstleistungen.
Der EuGH interpretierte die Bestellung der ACAM Ambiente im Jahr 2018 durch die Provinz zunächst als bloße Fortsetzung des ursprünglichen Vertrages und stellte fest, dass es richtlinienwidrig ist, wenn „die Ausführung eines inhouse vergebenen öffentlichen Auftrags ohne Ausschreibung fortgesetzt wird, wenn der öffentliche Auftraggeber am Auftragnehmer nicht mehr – wenigstens mittelbar – beteiligt ist und über diesen keinerlei Kontrolle ausüben kann.“
Begründend verwies der EuGH auf die vom ihm judizierten Voraussetzungen einer Inhouse-Vergabe. Im Fall einer Inhouse-Vergabe an einen Auftragnehmer mit lediglich öffentlicher Beteiligung kann der Erwerb der Anteile an diesem Auftragnehmer während der Vertragslaufzeit „eine Änderung einer grundlegenden Bedingung dieses Auftrags bedeuten …, die eine Ausschreibung erforderlich macht“. Ein derartiger Erwerb kann nämlich dazu führen, dass die Voraussetzung einer Inhouse-Vergabe nicht mehr erfüllt wird.
Die von einer Verfahrenspartei ins Treffen geführte Regelung des Art 72 Abs 1 d ii der Richtlinie 2014/24, wonach eine Änderung des Auftragnehmers unter bestimmten Voraussetzungen auch ohne Ausschreibung zulässig ist, ist laut EuGH nicht anwendbar. Diese Regelung ist nämlich auf den Fall beschränkt, dass ein neuer Auftragnehmer die Ausführung eines Auftrags fortsetzt, „der Gegenstand des ursprünglichen Vergabeverfahrens war“. Die in Rede stehende „Änderung des Auftragnehmers“ könne somit nicht unter diese Regelung fallen, weil der gegenständliche Auftrag ursprünglich ohne Vergabeverfahren vergeben wurde.
Auch der Umstand, dass der neue Anteilseigner in einer öffentlichen Ausschreibung ausgewählt wurde und somit mittelbar auch der neue Aufragnehmer, änderte laut EuGH an diesem Ergebnis nichts. Die konkreten Merkmale dieser Ausschreibung seien dabei nicht relevant, weil dieser Anteilseigner „eine Einrichtung ohne Beziehung“ zum Auftraggeber war.
Anmerkung der AutorInnen:
Der EuGH stützt das nunmehrige Urteil im Wesentlichen darauf, dass der spätere Wegfall einer Inhouse-Voraussetzung (im Anlassfall der Wegfall der öffentlichen Beteiligung am Auftragnehmer) eine wesentliche Vertragsänderung bewirke und deshalb ausschreibungspflichtig ist. Der EuGH hat offenbar ein sehr weites Verständnis von ausschreibungspflichtigen Vertragsänderungen. Zivilrechtlich wäre nämlich der bloße Umstand, dass Geschäftsanteile am Auftragnehmer teilweise oder zur Gänze auf einen anderen Gesellschafter übertragen werden, gar keine Vertragsänderung, weil sich damit nur der Eigentümer bzw Gesellschafter aber nicht die Identität des Auftragnehmers ändert und der Auftraggeber bei solchen Anteilsübertragungen im Normalfall nicht einmal ein Mitspracherecht hat. Das Urteil des EuGH ist also nur vor dem Hintergrund der vergaberechtlichen Zielsetzungen verständlich, wenngleich damit die bisherige eigene Judikatur beiseitegeschoben wird und öffentliche Auftraggeber gezwungen werden, laufende Inhouse-Verträge regelmäßig zu überprüfen. Vor allem dann, wenn öffentliche Auftraggeber gesellschaftsrechtliche Umstrukturierungen vornehmen, kann dies dazu führen, dass laufende Inhouse-Verträge neu ausgeschrieben werden müssen.
Im Hinblick darauf, dass der EuGH im Anlassfall die öffentliche Ausschreibung über die Auswahl des neuen Anteilseigners nicht als relevant erachtete, ist folgendes klarzustellen: Der EuGH gründet die fehlende Relevanz dieser Ausschreibung offenbar darauf, dass sie keine „Beziehung“ zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer geschaffen hatte. Dies ist insofern nachvollziehbar, weil die Ausschreibung im Anlassfall nicht durch den Auftraggeber (Gemeinde bzw Provinz) sondern durch den Auftragnehmer (bzw dessen ursprünglichen Alleingesellschafter) durchgeführt wurde. Somit ist aber auch die Annahme gerechtfertigt, dass der EuGH zu einem anderen Ergebnis gelangen hätte können, wenn eine öffentliche Ausschreibung zur Auswahl eines neuen Anteilseigners des Aufragnehmers nicht durch den Auftragnehmer, sondern durch den Auftraggeber durchgeführt worden wäre, weil dies eine Beziehung zwischen Aufraggeber und Auftragnehmer bzw dessen Gesellschafter geschaffen hätte.