Im vorliegenden Fall hatte der EuGH zu beurteilen, ob beim Nachweis der finanziellen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auch Umsatzerlöse einer früheren Arbeitsgemeinschaft (ARGE) gezählt werden dürfen, wenn das nunmehr verfahrensteilnehmende Mitglied einer Bietergemeinschaft die damaligen Leistungen der ARGE nicht selbst erbracht hat. Im Konkreten hatte ein öffentlicher Auftraggeber aus Litauen die Sammlung und den Transport von Siedlungsabfällen ausgeschrieben. In den Ausschreibungsunterlagen wurde von den Bietern für den Nachweis der finanziellen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gefordert, dass Sammlungs- und Transportleistungen von Siedlungsabfällen mit einem durchschnittlichen Jahresumsatz in Höhe von EUR 200.000 in der Vergangenheit erbracht wurden. Es wurde also ein Spartenumsatz und kein genereller Unternehmensumsatz gefordert. Die Bietergemeinschaft, die den Zuschlag erhalten sollte, hat für diesen Nachweis entsprechende Umsätze angegeben, die aus Erlösen einer früheren ARGE stammten. Die dem Umsatz der früheren ARGE zugrundeliegende Dienstleistung wurde allerdings zum Großteil von anderen Unternehmen erbracht und nicht von jenem Mitglied der Bietergemeinschaft, die nunmehr den Zuschlag erhalten sollte. Ein nicht zum Zug gekommener Bieter hat mit einem entsprechenden Rechtsmittel eingewandt, dass derartige Umsätze nicht zum geforderten Spartenumsatz hinzugerechnet werden dürfen.
Der EuGH hat im vorliegenden Urteil darauf hingewiesen, dass es dem Auftraggeber freisteht, ob in den Ausschreibungsunterlagen entsprechende Gesamtjahresumsätze oder Spartenjahresumsätze für den Nachweis der finanziellen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gefordert werden. Wie aber der EuGH insbesondere in den Randnummern 76 bis 79 des Urteils ausführt, hat diese Entscheidung entsprechende Auswirkungen auf die konkret zu berücksichtigenden Umsatzzahlen. Wird nämlich ein Gesamtjahresumsatz gefordert, kann der Bieter auch Umsätze einer früheren ARGE angeben, auch ohne die Tätigkeit selber erbracht zu haben. Fordert hingegen der Auftraggeber einen Spartenjahresumsatz, kann der Auftragnehmer die Umsätze aus einer früheren ARGE nicht anführen, bei denen er die jeweilige Tätigkeit nicht selbst erbracht hat. Dabei weist der EuGH ausdrücklich darauf hin, dass mit dem geforderten Spartenumsatz nicht nur die finanzielle und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, sondern zugleich auch die technische Leistungsfähigkeit nachgewiesen werden muss.
Anmerkung der AutorInnen:
Für das österreichische Vergaberecht ist der Nachweis der finanziellen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in § 84 BVergG 2018 geregelt, der auf Anhang X verweist. In Absatz 1 Ziffer 7 des Anhang X sind ebenso zwei Möglichkeiten des Nachweises der finanziellen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit vorgesehen. Zum einen können öffentliche Auftraggeber einen Mindestgesamtjahresumsatzes fordern, bei dem es irrelevant ist, mit welchen Tätigkeiten dieser Umsatz erwirtschaftet wurde. Zum anderen können öffentliche Auftraggeber auch einen Mindestjahresumsatzes für jene Tätigkeiten fordern, in den die ausschreibungsgegenständliche Vergabe fällt; in diesem Zusammenhang spricht man auch von einem Spartenumsatz. Mit dem vorliegenden Urteil stellt der EuGH vergaberechtlich klar, dass ein Spartenumsatz eine Doppelnatur hat, mit dem sowohl die finanzielle und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit als auch die technische Leistungsfähigkeit nachzuweisen ist. Gerade auch das vorliegende Verfahren vor dem EuGH zeigt, dass mit dieser Doppelnatur von Spartenumsätzen immer auch vergaberechtliche Auslegungsprobleme verbunden sein können. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass für den öffentlichen Auftraggeber ein konkret geforderter Spartenumsatz mit den Mitteln des Vergaberechts nicht wirklich überprüfbar ist, weil sich dieser nicht ohne weitere aus Jahresabschlüssen oder Bilanzen allein ergibt. Beim vorliegenden Sachverhalt hätte der litauische Auftraggeber sogar die Rechnungen der seinerzeitigen ARGE überprüfen und eine exakte Leistungsabgrenzung zwischen den einzelnen Mitgliedern vornehmen müssen, um feststellen zu können, ob die verfahrensteilnehmende Bietergemeinschaft den geforderten Spartenumsatz tatsächlich erreicht hat. Es liegt auf der Hand, dass mit solchen Prüfungen in der Beschaffungspraxis erhebliche faktische Probleme in vergaberechtlicher Hinsicht verbunden sind, die öffentliche Auftraggeber im Interesse eines friktionsfreien Vergabeverfahrens vermeiden sollten. Unseres Erachtens sollten daher für den Nachweis der finanziellen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit keine Spartenumsätze, sondern nur generelle Unternehmensumsätze gefordert werden. Dass die Bieter entsprechende technische Erfahrungen in der ausschreibungsgegenständlichen Sparte haben, kann und muss natürlich auch geprüft werden. Dafür sollten aber öffentliche Auftraggeber entsprechende Referenzen für den Nachweis der technischen Leistungsfähigkeit fordern, die deutlich besser und einfacher überprüft werden können.