Bereits mit dem News-Beitrag vom 5.12.2018 haben wir die Frage thematisiert, ob bei zweistufigen Verfahren schon am Beginn der ersten Stufe die vollständigen Ausschreibungsunterlagen der zweiten Stufe verfügbar sein müssen. In diesem News-Beitrag wurde diese Frage aufgrund des Beschlusses des OLG Düsseldorf vom 17.10.2018, Verg 26/18, erörtert. Das OLG Düsseldorf stellte mit diesem Beschluss fest, dass es nicht notwendig sei, alle Ausschreibungsunterlagen – sohin auch die Unterlagen der zweiten Stufe – bereits vor Ablauf der Teilnahmefrist und damit in der ersten Stufe zur Verfügung zu stellen. Vielmehr komme es im konkreten Einzelfall für die zwingend ab Beginn des Verfahrens zur Verfügung zu stellenden Unterlagen darauf an, ob diese Unterlagen ausreichen, um „dem Unternehmen eine belastbare Entscheidung [zu] ermöglichen, ob die ausgeschriebenen Leistungen nach Art und Umfang in sein Produktportfolio fallen und es aus unternehmerischer Sicht sinnvoll ist, in den Teilnahmewettbewerb einzutreten um die Chance zu erhalten, zur Abgabe eines Angebotes aufgefordert zu werden.

Da der Beschluss des OLG Düsseldorf keine Rechtswirkung in Österreich hat, wurde mit Spannung die erste österreichische Entscheidung zu dieser Rechtsfrage erwartet. In einem aktuellen Erkenntnis hat nunmehr der VwGH entschieden, dass in einem zweistufigen Verfahren die Teilnahmeunterlagen der ersten Stufe einen geringeren Konkretisierungsgrad haben können, als die Ausschreibungsunterlagen der zweiten Stufe. Dieses Erkenntnis ist zwar noch zur Rechtslage des BVergG 2006 ergangen. Der VwGH hat sich aber in der Begründung – wie das folgende Zitat zeigt – auch bereits auf die aktuelle Rechtslage des BVergG bezogen, sodass damit wohl eine deutliche Indizwirkung verbunden ist. Im Konkreten führt der VwGH wie folgt aus: „Auch in den Erläuterungen zum Bundesvergabegesetz wird anerkannt, dass die Ausschreibung, die einen Überbegriff über verschiedene Unterlagen im Kontext eines Vergabeverfahrens darstellt, je nach betroffener Unterlage einen unterschiedlichen Konkretisierungsgrad und einen unterschiedlichen Umfang aufweisen kann (siehe zum BVergG 2006 RV 1171 BlgNR 22. GP 13, sowie nunmehr auch zum BVergG 2018 RV 69 BlgNR 26. GP 8). Es ist naheliegend, für die Teilnahmeunterlage in einem zweistufigen Verfahren hinsichtlich der Leistungsbeschreibung einen geringeren Konkretisierungsgrad zu verlangen, weil diese Unterlage in der ersten Stufe übermittelt wird und die Angebotslegung erst auf Grund der (nur an die ausgewählten Bewerber ergehenden) Aufforderung zur Angebotsabgabe erfolgt.

Neben dieser sehr zentralen Rechtsfrage über die Offenlegung der vollständigen Ausschreibungsunterlagen bereits in der ersten Stufe hat der VwGH eine weitere für die Beschaffungspraxis sehr wichtige Frage geklärt. In der Beschaffungspraxis wird immer wieder behauptet, es dürften optionale Leistungen nicht in einem überwiegenden Umfang gegenüber den definitiv zu vergebenden Leistungen ausgeschrieben werden. Dieser Rechtsansicht hat der VwGH völlig zu Recht eine klare Absage erteilt, sodass es keine umfangmäßigen Beschränkungen gibt, Leistungen als Optionen auszuschreiben. Im Konkreten hat dazu der VwGH wie folgt ausgeführt: „Der Rüge der Revisionswerberin, wonach (unzulässiger Weise) der Hauptteil der nachgefragten Leistung als Option ausgeschrieben worden sei, ist zunächst entgegenzuhalten, dass das Vergaberecht der Ausschreibung bloß optionaler Leistungsteile nicht entgegensteht. Dies ergibt sich schon aus der Regelung über die Berechnung des geschätzten Auftragswertes, welche die Berücksichtigung von Optionen ausdrücklich vorsieht (siehe § 13 BVergG 2006, dessen Inhalt im Übrigen – insoweit unverändert – in § 13 BVergG 2018 übernommen wurde). Der VwGH hat bereits zum Ausdruck gebracht, dass eine Option – auch wenn Festlegungen zu den Voraussetzungen ihrer Ausübung fehlen – als Bestandteil des Auftrags anzusehen ist und als solcher auch der Nachprüfung unterliegt (vgl VwGH 26.4.2007, 2005/04/0189, 0190). Die Inanspruchnahme (oder Nicht-Inanspruchnahme) eines in der Ausschreibung vorgesehenen Optionsrechts stellt daher keine wesentliche nachträgliche Vertragsänderung dar. Es schadet auch nicht, wenn es allein im Willen des Auftraggebers liegt, ob er von einer Option Gebrauch macht oder nicht. Es kann vorliegend auch dahinstehen, worin der „tatsächliche Hauptbestandteil“ des Auftragsgegenstandes liegt, zumal Verfahrensgegenstand der Abschluss einer Rahmenvereinbarung ist, bei der schon nach der Definition des § 25 Abs 7 BVergG 2006 keine Abnahmeverpflichtung des Auftraggebers besteht (vgl dazu auch VwGH 16.3.2016, Ro 2014/04/0070).

Anmerkungen der Autoren: Das vorliegende Erkenntnis ist ausdrücklich zur Rechtslage des BVergG 2006 ergangen. Insofern kann natürlich argumentiert werden, dass der sich aus diesem Erkenntnis ergebende Rechtssatz für die Zurverfügungstellung von Ausschreibungsunterlagen in der ersten Stufe nicht für das BVergG 2018 und insbesondere für die neu formulierten §§ 89 Ab 1 und § 260 Abs 1 gilt. Dennoch hat der VwGH ausdrücklich einen Vergleich zum BVergG 2018 und dessen Erläuterungen gezogen, um die Entscheidung zu begründen, dass die abschließenden Ausschreibungsunterlagen nicht bereits in der ersten Stufe des Verhandlungsverfahrens vorliegen müssen. Aufgrund dieses Vergleichs und der dargelegten Argumentation des VwGH kann wohl davon ausgegangen werden, dass dieser Rechtssatz auch für die Rechtslage nach dem BVergG 2018 gilt. Solange keine anderslautende (höchstgerichtliche) Entscheidung in Österreich vorliegt, kann dieses Erkenntnis als deutliches Indiz dafür gesehen werden, dass die abschließenden Ausschreibungsunterlagen nicht bereits in der ersten Stufe des Verhandlungsverfahrens vorliegen müssen. Damit scheint sich diese Rechtsansicht auch in Österreich immer mehr zu verfestigen.

Das zweite vom VwGH behandelte Thema über den Umfang optionaler Leistungen war in der Beschaffungspraxis ebenfalls höchst umstritten. Durch die vollinhaltlich zu begrüßende Klarstellung des VwGH ist auch dieses Streitthema nunmehr geklärt. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der Restriktionen des § 365 BVergG, der nachträgliche Vertragsänderungen nur sehr eingeschränkt zulässt, im Interesse einer größtmöglichen Flexibilität für öffentliche Auftraggeber wichtig. Um Ausschreibungspflichten zu vermeiden, die mit Vertragsänderungen aufgrund des § 365 BVergG häufig verbunden sind, sollten daher öffentliche Auftraggeber in ihren Vergabeverfahren so weit wie möglich entsprechende Optionen berücksichtigen.

VwGH 17.12.2019, 2018/04/0199