In § 89 Abs 1 BVergG 2018 ist folgende, in der vergaberechtlichen Praxis bereits intensiv diskutierte, Regelung enthalten: „Wird ein Vergabeverfahren mit vorheriger Bekanntmachung durchgeführt, sind die Ausschreibungsunterlagen ausschließlich auf elektronischem Weg kostenlos, direkt, uneingeschränkt und vollständig zur Verfügung zu stellen, sobald die jeweilige Bekanntmachung erstmalig verfügbar ist oder die Aufforderung zur Interessensbestätigung übermittelt bzw. bereitgestellt wurde. In der Bekanntmachung oder in der Aufforderung zur Interessensbestätigung ist die Internet-Adresse anzugeben, unter der diese Unterlagen abrufbar sind.“ Diese Formulierung ist für die Praxis deshalb problematisch, weil nach einer schlichten Wortinterpretation angenommen werden könnte, bei zweistufigen Verfahren müssten bereits am Beginn der ersten Stufe die vollständigen Ausschreibungsunterlagen der zweiten Stufe verfügbar sein. Gegen diese schlichte Wortinterpretation können mehrere Argumente ins Treffen geführt werden, auf die jedoch im vorliegenden Zusammenhang nicht abschließend eingegangen wird. Wesentlich dabei ist jedoch, dass das BVergG 2018 den Begriff der „Teilnahmeunterlagen“ nicht kennt; folglich kann argumentiert werden, dass der Begriff „Ausschreibungsunterlagen“ in § 89 Abs 1 BVergG 2018 auch Teilnahmeunterlagen umfasst. In diesem Fall erscheint die Regelung in § 89 Abs 1 BVergG 2018 völlig unproblematisch, weil dann am Beginn der ersten Stufe nur die Teilnahmeunterlagen vollständig verfügbar sein müssen, nicht aber die Ausschreibungsunterlagen der zweiten Stufe. Dieses Auslegungsverständnis wird auch durch folgende Regelung in § 114 Abs 1 letzter Satz BVergG 2018 nachdrücklich bestätigt, der den Ablauf des zweistufigen Verhandlungsverfahrens regelt: „Die Ausschreibungsunterlagen müssen so präzise sein, dass ein Unternehmer Art und Umfang der zu erbringenden Leistung erkennen und entscheiden kann, ob er einen Teilnahmeantrag stellt.“ Durch diese Regelung wird ausdrücklich klargestellt, dass ein Unternehmer in der ersten Stufe nur so viele Informationen benötigt, um erkennen und entscheiden zu können, ob er einen Teilnahmeantrag stellt; ein Anspruch auf die vollständigen Ausschreibungsunterlagen bereits am Beginn der ersten Stufe des Verhandlungsverfahrens besteht demnach also gerade nicht.
Unabhängig von diesen und weiteren Argumenten ist jedoch festzuhalten, dass es derzeit in Österreich noch keine Rechtsprechung zur Auslegung des § 89 Abs 1 BVergG 2018 gibt. Allerdings hatte das Oberlandesgericht Düsseldorf sich mit der oben dargestellten Fragestellung zu beschäftigen. Der Beschluss des OLG Düsseldorfhat zwar keine Rechtswirkung in Österreich; sowohl die deutsche Vergabeordnung als auch das österreichische BVergG 2018beruhen aber auf denselben unionsrechtlichen Vorgaben der EU-Vergaberichtlinie. Insofern hat daher dieser Beschluss dennoch eine Indizwirkung für die Auslegung des § 89 Abs 1 BVergG 2018.
Ausgehend von einer Ausschreibung von Reinigungsdienstleistungen in einem nicht offenen Verfahren wurden von einer deutschen Auftraggeberin unter Angabe eines Internet-Links die Vergabeunterlagen veröffentlicht (zunächst nur ein Bewerberanschreiben und einVordruck für einen Teilnahmeantrag).Gleichzeitig wurde darauf hingewiesen, dass die vollständigen Unterlagen nur jenen Teilnehmern zur Verfügung gestellte werden, die zur Angebotsabgabe in die nächste Stufe eingeladen würden. Im weiteren Verlauf wurden – mit Verlängerung der Teilnahmefrist – auch die Leistungsbeschreibung und Ausschreibungsbestimmungen den Interessenten zur Verfügung gestellt. Die Antragstellerin begehrte jedoch zusätzlich auch noch die Zurverfügungstellung des Vertragsentwurfes und begründete dies damit, dass die Leistungsbeschreibung nur in Zusammenhang mit dem Vertrag beurteilt werden könne und daher der Vertrag kalkulationsrelevant sei.
Das OLG Düsseldorf stellte hierzu fest, dass es nicht notwendig sei, alle Ausschreibungsunterlagen – sohin auch die Unterlagen der zweiten Stufe– bereits vor Ablauf der Teilnahmefrist und damit in der ersten Stufe zur Verfügung zu stellen. Vielmehr komme esim konkreten Einzelfall für die zwingend ab Beginn des Verfahrens zur Verfügung zu stellenden Unterlagen darauf an, ob diese Unterlagen ausreichen, um „dem Unternehmen eine belastbare Entscheidung [zu] ermöglichen, ob die ausgeschriebenen Leistungen nach Art und Umfang in sein Produktportfolio fallen und es aus unternehmerischer Sicht sinnvoll ist, in den Teilnahmewettbewerb einzutreten um die Chance zu erhalten, zur Abgabe eines Angebotes aufgefordert zu werden.“
Diese Rechtsansicht des OLG Düsseldorf erscheint für pragmatisch durchzuführende Verhandlungsverfahren eine völlig sachgerechte Vorgabe und entspricht auch der bisherigen Beschaffungspraxis in Österreich. Sofern sich bei entsprechenden Anlassfällen auch die österreichischen Nachprüfungsgerichte dieser Rechtsansicht anschließen sollten, wären mit dem neuen § 89 Abs 1 BVergG 2018 keine Auswirkungen auf die Durchführung von zweistufigen Verhandlungsverfahren in Österreich verbunden.