Gemäß § 78 Abs 1 Z 9 BVergG hat der öffentliche Auftraggeber einen Unternehmer von der Teilnahme am Vergabeverfahren auszuschließen, wenn der Unternehmer bei der Erfüllung einer wesentlichen Anforderung im Rahmen eines früheren Auftrages oder Konzessionsvertrages erhebliche oder dauerhafte Mängel erkennen lassen hat, die die vorzeitige Beendigung dieses früheren Auftrages oder Konzessionsvertrages, Schadenersatz oder andere vergleichbare Sanktionen nach sich gezogen haben. Diese Regelung wurde nahezu wortgleich aus Art 57 Abs 4 lit g der Richtlinie 2014/24/EU in das BVergG übernommen. Durch diesen Ausschlussgrund wird das Interesse öffentlicher Auftraggeber berücksichtigt, Unternehmer vom Vergabeverfahren auszuschließen, deren Leistungserfüllung bei früheren Aufträgen erhebliche Mängel aufwies. Der EuGH hatte sich in einem rezenten Urteil die Frage zu beantworten, ob die gerichtliche Anfechtung der Vertragskündigung durch den Auftraggeber dem Ausschluss des klagenden Unternehmens entgegensteht, weil noch nicht rechtskräftig feststeht, dass die Vertragskündigung auch tatsächlich zivilrechtlich berechtigt ist.

Diesem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Gemeinde Neapel führte eine Ausschreibung zur Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags zur Verköstigung von Schülern für das Schuljahr 2016/2017 durch. Das Unternehmen Sirio erhielt den Zuschlag. Im Mai 2017 wurde der Verpflegungsvertrag jedoch von der Gemeinde Neapel vorzeitig aufgelöst, nachdem es zu Fällen von Lebensmittelvergiftung aufgrund von Kolibakterien in den Mahlzeiten gekommen war, was durch Lebensmittelproben amtlich bestätigt wurde. Gegen diese Vertragskündigung klagte Sirio vor dem Zivilgericht. Bei Neuvergabe des Verpflegungsvertrages für das Schuljahr 2017/2018 gab Sirio erneut ein Angebot ab. Die Gemeinde Neapel hat aber das Angebot von Sirio in diesem Verfahren nicht ausgeschieden, weil es eine Bestimmung im italienischen Vergabegesetz gibt, wonach der Ausschluss eines Bieters wegen Verfehlungen nicht zulässig ist, wenn der Bieter gegen die Vertragskündigung des betreffenden Altvertrags einen noch anhängigen Rechtsbehelf eingelegt hat. Das konkurrierende Unternehmen Meca wandte sich gegen diese Entscheidung, Sirio nicht auszuscheiden, an das zuständige Verwaltungsgericht. Zur Klärung der in diesem Verfahren aufgeworfenen Fragen rief das Verwaltungsgericht den EuGH im Zuge eines Vorabentscheidungsverfahrens an. Im Konkreten war insbesondere zu klären, ob die italienische Bestimmung dem Art 57 Abs 4litera c und g der Richtlinie 2014/24/EU widerspricht.

Der EuGH wies eingangs darauf hin, dass die Richtlinie 2014/24/EU – anders noch als die Vorgänger-Richtlinie 2004/18/EG – den Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der fakultativen Ausschlussgründe weitgehend begrenzt. Sobald ein Mitgliedstaat einen der fakultativen Ausschlussgründe der Richtlinie 2014/24/EU tatsächlich im nationalen Gesetz übernommen hat, muss er die von der Richtlinie vorgegebenen wesentlichen Merkmale beachten und darf die Ausschlussgründe weder verfälschen noch deren Ziele und Grundsätze unberücksichtigt lassen. Anschließend führte der Gerichtshof aus, dass Art 57 Abs 4 der Richtlinie 2014/24/EU nur dem öffentlichen Auftraggeber und nicht einem nationalen Gericht die Aufgabe überträgt, die Zuverlässigkeit der Unternehmer zu beurteilen und über einen Ausschluss vom Vergabeverfahren zu entscheiden. Dadurch soll dem öffentlichen Auftraggeber insbesondere die Möglichkeit gegeben werden, die Integrität und Zuverlässigkeit jedes einzelnen Bieters individuell im Einzelfall zu beurteilen. Zudem hat der EuGH festgehalten, öffentliche Auftraggeber müssen ein Unternehmen „zu jedem Zeitpunkt des Vergabeverfahrens“ ausschließen können und nicht nur dann, wenn ein Gericht sein Urteil gefällt hat. Dies indiziert den Willen des Unionsgesetzgebers, dem öffentlichen Auftraggeber die Möglichkeit zu geben, Handlungen oder Unterlassungen eines Wirtschaftsteilnehmers vor oder während des Verfahrens in einer der in Art 57 Abs 4 der Richtlinie 2014/24/EU genannten Situationen selbstständig zu beurteilen. Der öffentliche Auftraggeber könnte bei Anwendung der fakultativen Ausschlussgründe insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch kaum Rechnung tragen, wenn er an eine von einem Gericht vorgenommene Beurteilung automatisch gebunden wäre. Nach dem 101. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/24 beinhaltet dieser Grundsatz insbesondere, dass der öffentliche Auftraggeber vor der Entscheidung, einen Wirtschaftsteilnehmer auszuschließen, berücksichtigt, dass die begangenen Unregelmäßigkeiten kleiner sind oder sich kleinere Unregelmäßigkeiten wiederholt haben. Im Übrigen würde eine nationale Vorschrift, die beim Ausschluss eines Bieters ausdrücklich auf das Vorliegen einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung abstellt, einen Auftragnehmer offensichtlich nicht dazu veranlassen, Selbstreinigungsmaßnahmen zu ergreifen. Auch das würde nach Ansicht des Gerichtshofs der Richtlinie 2014/24/EU widersprechen. Aus allen diesen Gründen ist die nationale Vorschrift im italienischen Gesetz nicht unionsrechtskonform.

Anmerkungen der AutorInnen: Die Entscheidung des österreichischen Gesetzgebers, die Regelung in Art 57 Abs 4 lit g der Richtlinie 2014/24/EU ohne Einschränkungen oder Erweiterungen zu übernehmen, ist unionsrechtlich korrekt. Jede Einschränkung oder Erweiterung dieser Richtlinienbestimmung im BVergG wäre nach dem vorliegenden Urteil des EuGH mit der Richtlinie nicht vereinbar. Im Ergebnis hat daher jeder öffentliche Auftraggeber autonom für sich die Entscheidung zu treffen, ob der Ausschlussgrund gemäß § 78 Abs 1 Z 9 BVergG erfüllt ist. Für diese aufgrund der unklaren Tatbestandsmerkmale häufig nicht leicht zu treffenden Entscheidung bietet das vorliegende Urteil (leider) keine Auslegungshilfen.

EuGH 19.6.2019, Rs C-41/18