Im Zuge einer Ausschreibung der Gemeinde Mailand im Jahr 2011, die Arbeiten der außergewöhnlichen Instandhaltung und Einbruchsicherung bei Wohnbauten vorsah, erhielt die Consortio Stabile Libor Lavori Pubblici (Libor) den Zuschlag. Nach Überprüfung des Bieters, stellte sich heraus, dass Libor mit der Zahlung der Sozialbeiträge mit 278 Euro in Verzug war, worauf die Gemeinde Mailand den Zuschlag aufhob und Libor aufgrund des Verstoßes gegen Beitragsverpflichtungen aus dem Verfahren ausschloss.
Im Zuge einer Klage gegen die Aufhebung des Zuschlages wandte sich das zuständige Gericht im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahren an den EuGH mit folgender Frage: Steht der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer innerstaatlichen Vorschrift entgegen, die vorsieht, dass ein Verstoß gegen die Beitragsverpflichtung, der über 100 Euro hinausgeht und gleichzeitig mehr als 5% der geschuldeten Beiträge ausmacht, als schwerwiegender Verstoß zu qualifizieren sei und somit einen Ausschlussgrund darstelle.
Der EuGH erklärte in diesem Zusammenhang, dass eine innerstaatliche Bestimmung, die Personen von der Teilnahme an Vergabeverfahren ausschließt, eine Beschränkung im Sinne der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit darstellt. Diese könne jedoch gerechtfertigt sein, wenn ein legitimes Ziel des Allgemeininteresses verfolgt und die Verhältnismäßigkeit gewahrt wird. Die innerstaatliche Bestimmung über Sozialbeiträge hatte zum Ziel, auf die mangelnde Zuverlässigkeit, Sorgfalt und Seriosität eines Unternehmers, der mit den Sozialbeiträgen in Verzug ist, hinzuweisen. Der EuGH stellte fest, dass diese Vorschrift nicht nur der Gleichbehandlung der Teilnehmer diene, sondern auch dem Grundsatz der Rechtssicherheit, dessen Einhaltung eine Voraussetzung für die Verhältnismäßigkeit einer beschränkenden Maßnahme darstellt.
Was die Höhe der in der innerstaatlichen Rechtsvorschrift angelegten Schwelle für den Ausschluss angeht, hielt der EuGH fest, dass es im Ermessen der Mitgliedsstaaten liege, diesen Ausschlussgrund im Einklang mit wirtschaftlichen oder sozialen Erwägungen überhaupt nicht anzuwenden, ihn abzumildern oder jedenfalls flexibel zu gestalten. Die 100 Euro Schwelle stellte somit eine Flexibilisierung dar, die nicht über das erforderliche Maß hinausging.
Im Ergebnis bedeutet dies, dass Art 49 und Art 56 AEUV sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahingehend auszulegen sind, um innerstaatlichen Rechtsvorschriften nicht entgegenzustehen, welche die öffentlichen Auftraggeber bei öffentlichen Bauaufträgen verpflichten, einen Bieter, der gegen die Entrichtung der Sozialbeiträge verstieß, von einem Auftrag auszuschließen, wenn dieser über 100 Euro hinausgeht und gleichzeitig mehr als 5% der geschuldeten Beiträge ausmacht.
Italienische Rechtsvorschriften sehen eine genau bezeichnete Schwelle im Hinblick auf die Sozialbeiträge in den Ausschlussgründen des Vergabeverfahrens vor. Der österreichische Gesetzgeber hingegen verzichtete bei dem in § 68 Abs 1 Z 6 BVergG genannten Ausschlussgrund auf eine hinreichend bestimmte Schwelle. Vielmehr hält das österreichische Vergaberecht lediglich fest, dass bei einem geringen Zahlungsrückstand der Sozialbeiträge vom Ausschluss abgesehen werde kann. Diese Unbestimmtheit hat naturgemäß eine erhebliche Rechtsunsicherheit zur Folge.